Saubere Sache: Das Klo-Café

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Wer im Restaurant im Allgemeinen den Tisch an der Toilettentür meidet, der sollte hier vielleicht nicht hinunter steigen – andererseits verpasst man dann eine nette kleine Überraschung: Das Café Attendant in Fitzrovia (oder Noho) ist in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt untergebracht.

Wo einst Viktorianische Gentlemen ihre Notdurft verrichteten, schlürfen heute Londoner Hippster ihren Macchiato für 2 Pfund 40 das Tässchen, und den obligatorischen Smoothie für nicht viel weniger.

OLYMPUS DIGITAL CAMERANatürlich wurde vor der Eröffnung Mitte Februar alles mal ordentlich durchgekärchert, aufdringliche Gerüche sind also nicht zu befürchten, wenn man einen Besuch plant. Ansonsten ist so weit alles Original: die Kacheln, die Keramik, sogar die Wasserkästen hängen zum Teil noch. Die hübsch verschnörkelten Pissoirs darunter wurden per Hochdruckreiniger von allen Rückständen befreit und dienen nunmehr als separierende Tresen für den solitären Kunden. Wo sich früher die Klohäuschen reihten, schmieren die Mitarbeiter jetzt Bagels, und das ehemalige Séparée für den diensthabenden Klo-Chef (englisch: Attendant) wurde zur Küche umgewidmet.

Über 100.000 Pfund hat sich der neue Besitzer den Umbau der ollen Toiletten kosten lassen – Gegenwert der Abfindung, die er von seinem früheren Arbeitgeber bekommen hat, als seine Marketing-Manager-Stelle  gestrichen wurde („made redundant“ heißt das hier schön schönfärberisch).

OLYMPUS DIGITAL CAMERAGegen Mittag füllt sich der kleine Raum schnell mit jungem Publikum aus den umliegenden Kreativbuden. Zum Lunchbreak gibt’s Bio-Burger mit 8-stündig geschmortem Schweinefleisch, Rucola-Schinken-Baguettes und zum Nachtisch Schokoladen-Brownies – das übliche Programm für die ernährungsbewusste Laufkundschaft. Ein Erfolgsmodell?

Der Besitzer des Attendant-Cafés schaut sich jedenfalls bereits nach weiteren Filialen um. Von den knapp 500 öffentlichen Toiletten in London, sind in den vergangenen 10 Jahren über 80 geschlossen worden, und rotten im Untergrund vor sich hin. Da ist also noch einiges möglich.

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Alle Fotos in diesem Artikel (C) Martin Herzog 2013

Aber es muss ja nicht unbedingt ein Café sein. In Sheperd’s Bush hat vor einiger Zeit ein Comedy-Club in einer umgebauten öffentlichen Toilette eröffnet, in Aldwych eine Bar im Stil der 30er Jahre, und in Süd-London hat eine junge Architektin ihr Ein-Zimmer-Appartment in eine öffentliche Toilette verlegt: Tageslicht durch gitterartige Oberlichter. Der Begriff Wohnklo mit Kochnische bekommt da eine ganz neue Facette. Bei den hiesigen Immobilien- und Mitpreisen ist die Idee vom behaglich umgestalteten Pissoir jedenfalls längst nicht so absurd, wie sie sich anhört.

lingua britannica, lingua europaeensis?

Taxi, London

Taxifahrer in London: Quell unendlicher Weisheit
(Photo credit: dtrimarchi)

Kaum hat uns das Taxi am Buckingham Palace aufgelesen, schon redet sich unser Fahrer in Fahrt. Sicher, die Royals und die Paläste seien gut für den Tourismus und für sein Geschäft, aber einer modernen Demokratie stehe das doch schlecht zu Gesicht. – Oh weh, von allen Londoner Cabbies haben wir den einzigen überzeugten Republikaner erwischt.

Als wir eingestiegen sind, hat er mitbekommen, dass seine Kunden zwei Deutsche und ein Franzose sind, und fühlt sich damit politisch auf heimatlichem Boden. Ja, das französische System sei doch viel besser, mit einem gewählten Präsidenten. Und dann die Deutschen mit ihrem Oberhaupt! So etwas bräuchten die Briten, jawohl, eine Präsidentin wie Angela Merkel.

Wir schauen uns gegenseitig an. Niemand will den anti-royalen Furor unseres Chauffeurs bremsen, mit seiner Überzeugung hat er es im Monarchie-trunkenen England schwer genug. Aber nach einem Moment betretener Stille kann ich doch nicht aus meiner deutschen Haut. Also höre ich mir dabei zu, wie ich unseren republikanischen Freund darauf hinweise, dass our glorious leader, also The Iron Lady II, also Mutti, formal gesehen nicht die Nummer 1 im Staate ist, nicht einmal Nummer 2 der Rangliste, sondern nach dem Bundestagspräsidenten sogar an dritter Stelle kommt.

Deutsch: Joachim Gauck im Hasso-Plattner-Institut

Die Nummer 1 (zumindest nominell): Joachim Gauck
(Quelle: Wikipedia)

„Oh“, meint dazu unser Fahrer knapp . „Und wer ist dann euer Präsident?“ Er wirft die Stirn in falten und schaut fragend in den Rückspiegel. „Joachim Gauck“, erwidere ich, und lasse den Namen wirken.

Wirkt aber nicht. Kein bißchen. Als er wieder in den Rückspiegel schaut, hat sich zu den Runzeln auf der Stirn unseres Fahrers lediglich eine weitere Falte hinzu gesellt.

Aber wer will es ihm vorwerfen? Kaum ein Deutscher weiß, wer Bundespräsident ist, was er den ganzen Tag macht, oder gar wie er gewählt wird. Vom handelnden politischen Personal in Deutschland hat der politisch interessierte Brite vielleicht schon mal von Wolfgang Schäuble gehört (weil der auf dem Geld sitzt, um die Griechen rauszukaufen), und von Guido Westerwelle (weil der bei der UN schon mal durch’s Bild turnt).

Die einzige Politikerin, die hier auch jeder Daily-Mirror-Leser kennt, ist… – genau.

Joachim Gauck aber könnte tagelang ohne Personenschutz durch London prominieren, ohne dass ihn irgend jemand behelligen würde – abgesehen vielleicht von der immer gleichen Rentner-Reisegruppe aus Thüringen, die täglich am Parliament-Square herum lungert.

Den englischen Medien jedenfalls ist der deutsche Präsident kaum je eine Zeile wert. Was muss da passieren, dass es dieses unbekannte Staatsoberhaupt bis auf die Kommentar-Seite der Times schafft? Hat sich da etwas im Verhältnis zu Deutschlands erstem Bürger verschoben? Hört man am Ende gar auf das, was da aus dem Hause Bellevue über den Ärmelkanal schallt?

Herr Gauck hat lange und viel über Europa gesprochen, und davon, dass wir nicht Zauderer brauchen, sondern Zupacker, wenn’s mit Europa was werden soll. Im Zweifel ging es um mehr und nicht weniger Europa, und zwar lieber mit den Briten als ohne. Als Beweis und Lockmittel dient der Vorschlag zur Gründung eines europäischen Fernsehkanals, der in der künftigen lingua franca Europas senden solle, die de facto längst die Europäische Amtssprache ist, vulgo Englisch.

Gauck-Rede_Times23-2-2013Und was kommt davon auf der Insel an? Die Europäer sollen bitte alle britisch werden. Die Sprache sei nur ein erster Schritt. Nein, es sei notwendig, dass Deutsche, Franzosen, Belgier und Spanier sich auch mit den Englischen Gewohnheiten und Eigenarten vertraut machten, wenn sie wirklich und wahrhaft britisch sein wollten:

Sie müssten lernen, Gespräche über das Wetter für eine unerschöpfliche Quelle der Faszination zu halten. Sie müssten fest daran glauben, dass es möglich sei, für 1 Pfund 27 ein Dutzend Würstchen aus reinem Rindfleisch zu kaufen. Sie müssten bei jeder unpassenden Gelegenheit eine Unterhaltung über den Verkaufswert ihres Eigenheims vom Zaun brechen lernen, Und schließlich ihren Taxifahren beibringen, das Wissen zur Lösung sämtlicher Weltprobleme bereit zu halten (ob der Times-Kommentator damit allerdings unseren Taxifahrer meint, bleibt mir verschlossen).

Nein, es besteht wohl keine Gefahr, dass hierzulande die Äußerungen eines deutschen Präsidenten allzu ernst genommen werden könnten.

Der Lacher aus Bergheim

Der Junge in der Schlange neben mir giggelt vor sich hin. Während seine Mutter den Wocheneinkauf auf’s Band hievt, blättert er in einem bunten Heftchen, das sich mit Fußball befasst, aber aufgemacht ist wie eine Mischung aus Bravo und den Batman-Comics, mit denen ich meine Jugend vertrödelt habe. Aber die Aufmachung passt: Den Nimbus von Superhelden haben unsere Flutlicht-Söldner ja schon länger.

PodolskisDayOut1Die Geschichte, die den jungen Mann so amüsiert, ist eine Fotostrecke über Arsenals nicht mehr ganz so neuen Neuzugang aus Köln und seine Tour zu den Sehenswürdigkeiten Londons. Match! heißt die Kinder-Postille, für die sich Poldi vor Londoner Taxis, dem Arsenal-Stadium und der London-Bridge ablichten ließ, das Kinn stets gereckt und die Arme uber-cool vor der Brust verschränkt.

Die Kommentare, die ihm die Redaktion in den Mund geschoben hat, lassen ahnen, dass die Engländer in ihm den intellektuellen Koloss erkannt haben, der schon in Deutschland das Sport-Feuilleton regelmäßig mit leichtfüßigen Aphorismen versorgte.

Dabei schließen Häme und Verehrung sich nicht aus, auf der Insel eh nicht. Podolski wird hier als Lichtgestalt und letzte Rettung für Arsenal gefeiert. Ist schließlich der einzige, der überhaupt noch Tore für seinen Laden schießt (wie jüngst zu besichtigen war angelegentlich der ansonsten vollständigen Demontage durch die Bayern). Und dann ist der auch noch sympathisch, der Deutsche! Neulich ist er in seinem Viertel Hampstead mit dem Bus zum nächsten Pizza-Restaurant gefahren, einfach so – was von der Sun ausführlich bejubelt wurde, die ja sonst bei Länderspielen die Deutschen gern als marodierende Hunnen-Horden beschwört. Und so bescheiden sei er, der Poldi! Stimmt, das zeigt auch sein Kommentar zur allgemeinen Euphorie: „Es ist noch zu früh, um zu sagen, dass ich ein Held bin“.

PodolskisDayOut2Held hin oder her – irgendjemand muss ihm gesteckt haben, dass es in England wichtig ist, über sich selbst lachen zu können – und das auch zu zeigen. Und so macht der Neu-Londoner alles mit, und sei es noch so dämlich. So dämlich wie das Video, das Arsenal als PR-Gag veröffentlichte vom Sprachunterricht, der Podolski vorgeblich verordnet wurde: Poldi lernt Cockney-Slang – oh weh! Dabei sind Sportler doch – wie Jürgen Malmsheimer das einmal endgültig zusammenfasste – herzzerreißend einseitig begabte Menschen. Erst mussten sie nur den Ball treffen. Dann auch darüber reden. Schlimm genug. Und jetzt sollen sie sogar lustig sein? Gehört offenbar alles zum Spielervertrag…

Manchmal tut er mir doch leid, der Jung. Aber nur kurz.

Gehse inne Stadt… – Currywurst in London, Teil 1

When in London do as the Londoners do – Jaja, schon klar. Aber welcher Teutone kann schon mit Fish&Chips, Bangers&Mash und Steak&Ale Pie auf Dauer glücklich werden? Auch den Beef-Burgern ist ja seit neustem kaum noch zu trauen.

Herman ze German an Charing Crossalle fotos dieses Artikels (c) Martin herzog 2013

Herman ze German an Charing Cross
alle fotos dieses Artikels (c) Martin herzog 2013

So sehr sich der kulturbewusste Weltbürger auch vorgenommen haben mag, die landestypische Küche zu umarmen (oder im Fall UK zumindest die kulinarischen Errungenschaften aus kolonialen Tagen) – es kommt die Zeit, da erwischt er sich dabei, wie er sich hinter dem Bahnhof Charing Cross herumdrückt, als stehe er vor einem Pornoladen; wie er, den Kragen hochgeschlagen, nervös die Viliers Street auf und ab patroulliert; bis ihn seine Füße schließlich wie ferngesteuert in die Räumlichkeiten von Herman ze German tragen, vorbei an den deutschen Touris, die schon bei einem Wochenendtrip nicht auf deutsche basse cuisine verzichten können, um an der Theke eine Currywurst zu bestellen, und zwar mit Pommes. Nicht Chips. Nicht French Fries. Nein, Pommes!

Ja, ich gestehe hier und jetzt und in aller Freiheit: Mehrfach schon in meiner Londoner Zeit habe ich dieses Etablissement aufgesucht, um mich ihr hinzugeben: der Lust an der Wurst. Und mehr noch: Ich werde es wieder tun! Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Die Versuchung ist groß – und inzwischen überall in London. Neben Herman ze German steht eine ganze Reihe von Oasen germanischer Schnellküchen-Kultur zur Auswahl: Kurz&Lang am Smithfield Market, The Wurst Club im Finanzviertel, sowie diverse Brauhäuser, die neben Haxen mit Knödeln auch die Berliner oder die Ruhrpott-Variante des deutschen Nationalgerichts auf der Speisekarte führen. Mit der Präsenz der vielen deutschen Ex-Pats in London allein ist das nicht zu erklären. Die Lust an dieser Art Wurstigkeit der Deutschen hat – wenn vielleicht auch nicht die Engländer insgesamt – so offenbar doch die Londoner gepackt.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWas liegt also näher, als den ultimativen Currywurst-Test anzugehen? In lockerer Reihe werde ich in der kommenden Zeit die genannten Wurstbratereien aufsuchen, Verlockungen der Speisekarte wie Hot Dog mit Sauerkraut und andere angelsächsische Verhunzungen deutscher Esskultur gekonnt übersehen, um jenes unvergleichliche Amalgam aus deutscher (Wurst), chinesischer (Ketchup), indischer (Currypulver) und belgischer (Pommes) Küchentradition zu verkosten, und das Ergebnis dieses selbstlosen Selbstversuches an dieser Stelle dazulegen.

Die Bewertungskriterien werden sich dabei auf das direkte geschmackliche Umfeld der gereichten Speise beschränken: Wurst, Soße, Pommes, fertig. Beim Lieblingsgericht der Deutschen handelt es sich um Street Food, wie das neudeutsch heißt. Niemand erwartet Damast-Servietten, Meissner Porzellan und Kerzenschein. Auch Stühle/Hocker sind in diesem Zusammenhang überbewertet. Ja mehr noch, recht eigentlich gehört es zur wesenhaften Essenz der Currywurst, im Stehen gegessen zu werden. Dennoch darf die Wurst appetitlich aussehen, denn das Auge… Sie wissen schon.

IMG_1290Beginnen wollen wir mit Londons jüngsten Neuzugang in Sachen Wurstbraterei: Anfang des Jahres eröffnete unweit der Bank of England The Wurst Club. so lenke ich an einem Freitagnachmittag meine Schritte in das kleine Ladenlokal in der City. Es ist kurz vor Vier, die jungen Damen hinter der Theke sind bereits beim Saubermachen, gleich wird zugesperrt. Aber, klar, eine Currywurst geht noch. Pommes dabei? Kein Problem, die Friteuse wird noch einmal angeworfen. Für Service gibt’s jetzt schon mal ein Sternchen.

Auf der Speisekarte steht Original Berliner Currywurst. „Kommt tatsächlich aus Berlin“, sagt Anna, die auch aus Berlin kommt. In London studiert sie und jobbt hier nebenbei. Sie ist eine von 10 Mitarbeitern, zwei davon fest, erzählt sie, während sie die Pommes ins heiße Fett hängt. Fast alle Mitarbeiter seien Deutsche, abgesehen vom Besitzer – der ist Italiener. „Hat aber 12 Jahre in Würzburg gelebt.“ Das nennt man wohl Globalisierung. Die Wurst stammt natürlich aus artgerechter Haltung, nachhaltig und Bio und so. Darauf lege der Chef großen Wert.

IMG_1288Trotz aller Nachhaltigkeit machen die Damen aus den zahlreichen umliegenden Büros und Banken wohl meist einen Bogen um die deutsche Wurst, und biegen zum Lunch eher in einen der Sushiläden, oder eine der Ketten, die mit gaaanz gesunder Kost werben. Hauptkundschaft hier sind daher die Herrn Anzugträger, darunter viele Deutsche – mit ihren englischen Kollegen im Schlepptau. Zur Mittagspause zwischen 12 und 2 sei jeden Tag landunter, dann kämen sie kaum noch nach mit der Wurstbraterei. Stammkunden gebe es auch schon, darunter einen, der tatsächlich jeden Tag hier seine Bratwurst im Brötchen isst. Die gesamte Fensterfront dient als Stehtheke, „aber die wenigsten essen hier, das meiste, was wir verkaufen, ist Take Away,“ sagt Anna.

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Wurst und Soße sind hervorragend, der Behälter, in dem beides serviert wird, weniger.

Leider kommt auch die Wurst in einem zwar mitnahmefreundlichen, aber ästhetisch eher unvorteilhaften Behältnis, einer Art großen Suppenbecher, wie man sie aus dem Asia-Imbiss kennt. Die einzelnen Wurststücke müssen mittels wackeliger Plastikgabel aus der Soße exhumiert werden, was den Spaß am Verzehr deutlich trübt. Dabei sind beide vorzüglich: Wurst wie Soße, letztere aus hauseigener Herstellung, wie die Speisekarte stolz vermeldet.

Das zweite Sternchen gibt es für die angebotenen Röstzwiebeln, die – Lukullus sei’s geklagt – selbst an deutschen Currywurstständen immer noch nicht zum allgemeinen Standard gehören. Die dazu gereichten Pommes sind makellos: nicht zu dick, nicht zu dünn, und goldgelb knusprig. Letzteres wiederum macht das Aufspießen mit der Plastikgabel zur Herausforderung.

In der Getränkeabteilung lässt sich der Wurst Club ebenfalls aus Deutschland beliefern: Fritz Kola, Fritz Limo und Karamalz, sowie alkoholisch Warsteiner (natürlich nur aus der Flasche). In Summa kommt man mit Getränk auf rund 7 Pfund, was für Londoner Schnellimbiss-Verhältnisse Durchschnitt ist (die hiesigen Pubs bieten mittags auch schon mal Burger mit Chips und Pint zum Kampfpreis von 5 Pfund an. Alles, was sich gesund schimpft, geht eher gegen 8-9 Pfund).

IMG_1276-001Demnächst soll in der oberen Etage ein Verkaufsraum für deutsche Produkte entstehen, erzählt Anna während ich die letzten Frittenkrümel aus der Pappschale zusammenkratze. „Das wird dann zur Anlaufstelle für all das, was es hier nicht zu kaufen gibt und der Deutsche vermisst.“

Na, vielleicht muss ich ja meine geliebten Spreewaldgurken bald nicht mehr durch den Trick beziehen, dass ich sie meinen Besuchern aus Deutschland als Pflichtgeschenk verordne, sondern kaufe sie über dem Wurst Club. Und wenn man einmal schon da ist…

THE WURST CLUB LTD., 56-57 Cornhill, London EC3V 3PD, Phone: +44 20 728 380 08

Neulich in der Tube…

DrHouse_Tube

gesehen in der Piccadilly Line
(c) 2013 Martin Herzog

Reinschauen: Scherbe mit Aussicht

Herr Turtur

Herr Turtur (Photo credit: naufragoenlasopa)

Erinnert sich noch jemand an Herrn Turtur? Herr Turtur erschien aus der Ferne riesengroß, und je mehr er sich näherte, desto kleiner wurde er. Herr Turtur ist ein Scheinriese. Ein freundlicher, muss man dazu sagen. Herr Turtur gehört zum handelnden Personal in den Abenteuern von Jim Knopf und seinem Freund Lukas, dem Lokomotivführer. Als Kind fand man das einfach nur lustig, später wurde dann klar, dass es Scheinriesen nicht nur durch die Augsburger Puppenkiste ins Fernsehen schaffen, sondern in der Verkleidung als Politiker, Wirtschaftskapitäne, Seriensternchen und … (bitte an dieser Stelle das gewünschte  Medienphänomen einsetzen) auch vermittels Nachrichtensendungen und Talkshows.

Big BenDass es das Phänomen Scheinriese auch bei Gebäuden gibt, weiß jeder, der einmal direkt neben Big Ben gestanden hat. Im Fernsehen sieht er viel imposanter aus, der Name hilft natürlich auch nicht (jaja, weiß schon: Big Ben ist nur die Glocke innen drin. Aber selbst die Londoner bezeichnen den Turm so, niemand sagt „Elizabeth Tower“, wie er seit einem halben Jahr offiziell heißt). Gleiches gilt für den Tower of London – und seit kurzem für „die Scherbe“, Londons neueste Errungenschaft im Bereich Architektur der Postmoderne, benannt nach den scherbenartig oben heraus ragenden Glasspitzen. Sieht immer noch aus, als fehlte etwas. Fehlt aber nix. Ist fertig.

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The Shard (c) 2013 Martin Herzog

Mit knapp 310 Metern überragt „The Shard“ jedes andere Gebäude in London um mehr als das doppelte und ist damit das höchste in – äh – der Europäischen Union. Für Europa hat’s nicht ganz gereicht. Irgend so ein Turm im dunklen Osten ragt noch höher hinauf, man weiß nicht genau, wo, aber geografisch zählt es wohl noch zu Europa. Die Scherbe jedenfalls ist die unübersehbare neue Spitze in Londons Skyline, von überall in London, und sogar viele Meilen entfernt ist sie zu erahnen, wie mir ein Pendler aus Kent verriet. Das Gebäude selbst ist der einzige Ort, von dem man die Scherbe nicht sehen kann (…sehen muss, wie einige Londoner sarkastisch bemerken).

Beim Gang oder der Fahrt auf die Scherbe zu passiert nun exakt das, was in bei Jim Knopf mit Herrn Turtur passiert: Sie wird immer kleiner! Was aus der Ferne alles andere überragte, erscheint immer weniger eindrucksvoll, je mehr man sich nähert. Ein paar Straßen entfernt schießt dann der Gedanke durch den Kopf: Das soll das höchste Gebäude Europas sein (jaha, das zweithöchste!)? Sicher, ist immer noch ziemlich hoch und beeindruckend und so. Vor allem ist es unten viel breiter als gedacht, denn die Spitze läuft schon ziemlich spitz zu. Und so verliert sich der wuchtige Eindruck, den die meisten Wolkenkratzer hervorrufen. Ein Scheinriese halt.

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The Shard (c) 2013 Martin Herzog

So etwas gefällt den Londonern. Nun, den meisten. Bei der obligatorischen Straßenumfrage (im Fachjargon VoxPop genannt, von Vox Populi, die Stimme des Volkes – jaja, wir Journalisten hatten alle mal Latein in der Schule) erkundigt sich ein älterer Londoner Gentleman vorher vorsichtig, ob er im Fernsehen auch fluchen dürfe, wenn er sich zum Shard äußert. Von einem Schandfleck im Stadtbild war schon lange vor der Eröffnung in diversen Feuilleton-Artikeln die Rede. Die fein austarierte Londoner Skyline werde völlig aus der Balance geworfen. Interessanter Weise hat es dieses Argument auch schon bei der Tower Bridge gegeben, damals, Ende des 19. Jahrhunderts, als sie geplant und gebaut wurde (richtig, so alt ist sie noch gar nicht). So scheußlich sie für sich genommen auch ist: Aus dem Stadtbild würde sie heute niemand entfernen wollen. Im Gegenteil: London ohne Tower Bridge ist wie… wie London ohne Tower Bridge eben. Dem Shard dürfte es bald ähnlich ergehen.

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Bürgermeister Boris Johnson bei der Eröffnung der Besucherplattform des Shard (c) 2013 Martin Herzog

Aber schon jetzt war das Tamtam riesig zur Eröffnung der Besucherplattform. Eröffnung? Ach was, ein Event, a once in the lifetime experience! Die Weltpresse war zugegen, der Londoner Bürgermeister durchschnitt symbolisch ein rotes Band, und die Medienmeute prügelte sich um Fotos von den ersten Besuchern (Der Evening Standard berichtet stolz: In den ersten Minuten gab es bereits zwei Heiratsanträge im Himmel von London). Und alles ist ganz aufgeregt, wir auch, während der Londoner Regen leise auf die Scheiben tropft.

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View from The Shard (c) 2013 Martin Herzog

Schaut auch mal jemand nach unten? Ach ja, die Aussicht. Sehr hübsch. Toller Blick von Wembley bis Canary Wharf. Für uns heute frei, für die zahlenden ersten Gäste 25 Pfund pro Nase. Dagegen ist eine Rundfahrt mit dem London Eye noch ein Schnäppchen, und das will was heißen. Ist aber auch nur halb so hoch.

Überhaupt die Zahlenhuberei: Stockwerke; Höhe in Metern, oder noch eindrucksvoller: in Füßen; verbaute Glasfläche, Zahl der Aufzüge und deren Geschwindigkeit, Gesamtgewicht des verbauten Stahls; Anteil des Recycle-Materials, bereitgestellte Büro- und Wohnfläche… – alles, um zu betonen, dass hier ein wirklicher Riese entstanden ist, nicht nur ein Scheinriese. Und wir nicken und sagen: nein, wirklich? Sehr beeindruckend!

Dabei handelt es sich nüchtern betrachtet um einen mehr oder weniger schön organisierten Haufen aus Stahl und Glas, der mit dem 5-Sterne Hotel, das er beheimatet, seinem Wellness-Spa, den Luxus-Appartments zu 40 Millionen Pfund das Stück, und seiner überteuerten Aussichtsplattform vor allem einen Ausdruck arabischer Präpotenz darstellt, und der so gut in den sozialen Brennpunkt passt, in den er mittig hinein gpflanzt wurde (das London Bridge Quarter auf der Southbank), wie ein viktorianischer Gentleman in eine Birkesdorfer Bauernhochzeit. Er ist eine Geld-Insel Katarischer Scheichs in einem Tümpel sozialer Hinfälligkeit. Nur gering die Gefahr, dass die Insassen des Turms viel mit den Eingeborenen drum herum zu schaffen bekommen könnten. Viel eher werden steigende Mieten diesen Stadtteil südlich der Themse komplett gentrifizieren, wie das so schön euphemistisch heißt.

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The Shard (c) 2013 Martin Herzog

Davon berichtet die nationale Presse natürlich nicht. Und die internationale noch viel weniger. Dafür glitzert der Turm auch viel zu schön in der Sonne, wenn der Regen abzieht. Das mediale Leben spielt sich oben ab, auf der Aussichtsplattform im 68. Stock, wo Bürgermeister Boris  gerade seine letzten Interviews gibt, bevor er zur nächsten Eröffnung eilt, und wo wir uns auf die ersten Besucher stürzen, um an ihren Erlebnissen teilzuhaben. Wir, die Leute mit den Vergrößerungsgläsern für die Scheinriesen dieser Welt.

Der Beitrag über die Eröffnung des Shard ist heute um 16:30 Uhr (Deutsche Zeit) bei der Deutschen Welle in euromaxx zu sehen.