Wor-tschesster-schairie Soße zwischen Tschisswick und Lässter Square

Mist! An meiner Heimatstation Acton Town aus Versehen in die District Line eingestiegen statt in die Piccadilly Line. Erst in Hammersmith kann ich wieder umsteigen. Während die Piccadilly bis dorthin durchrauscht, hält die grüne Vorort-Linie von Anno 1868 an jeder Milchkanne: Chiswick Park, Turnham Green, Stamford Brook. Die Dame im Lautsprecher kündigt allerdings ganz andere Stationen an, nämlich Tschissik Park, Türnemgrien und Stemmfed Bruck.

Nicht, dass man hier etwa aussteigen wollte. Aber nach dem Übersiedeln in die Piccadilly wird es nicht besser: Gloucester Road steht auf dem Bahnhofsschild. Und was tönt durch den Waggon? „This is Glosster Road“. Später wird die Bahn am Leicester Square halten, dort, wo immer die roten Teppiche für die englischen Filmpremieren ausgerollt werden. Dummerweise wird auch dieser weltberühmte Platz nicht ausgesprochen, wie wir glauben: Lässter Square sagt der Londoner.

Jedes mal, wenn ich hier vorbei komme, muss ich an meine Mutter denken, die zu den seltenen Gelegenheiten, wenn es bei uns Steak gab, mit der Frage: „Möchte jemand dazu Wortschesster-Schier-Soße?“ die zugehörige Flasche aus dem Schrank zog. Selbige wurde sodann unter ungläubigem Kopfschütteln rituell von Hand zu Hand gereicht, auf dass sich jedes Familienmitglied in der mehr oder minder originellen Vertonung dieses Namens versuche. Wie um Himmels Willen sollte das ausgesprochen werden: Worcestershire? Aber offenbar ringen nicht nur wir Teutonen mit der Aussprache dieser Region in den West Midlands.

Ein Aha-Erlebnis in dieser Hinsicht war für mich der Film Shrek III, in dem der Held und sein Begleiter Donkey den künftigen König Arthur von seiner Penne abholen sollen, die in einer mittelalterlichen Burg untergebracht ist und den schönen Namen Worcestershire High School trägt. Langsam, und Silbe für Silbe liest Donkey von dem Schild über der Zugbrücke ab: „Wor-ßes-Ter-Schei-Rie“. Offenbar haben auch die Muttersprachler vom anderen Ende des Atlantiks so ihre Probleme mit englischen Eigennamen (wie vermutlich Australier, Neuseeländer und alle anderen nativ englischsprachigen Völker dieser Erde). Die korrekte Aussprache hat auf den ersten Blick recht wenig mit dem gedruckten Wort zu tun – Wuußtersche wird es ausgesprochen, mit tonlosem, kurzem E am Ende.

Wer sich in London bewegt, stößt andauernd auf solche phonetischen Herausvorderungen. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit habe ich deshalb hier eine Reihe von Orts- und Eigennamen aufgeführt, sowie einige weitere Besonderheiten, deren Aussprache nicht mit den sonst üblichen Regelungen des Englischen zu tun haben. Vermutlich historisch unter dem Eindruck eines entsprechenden örtlichen Idiom entwickelt, haben sie sich erhalten, und machen Nicht-Einheimischen das Leben schwer.

Aber keine Panik! Die englische Uschi, die in unserem Auto-Navi wohnt, spricht Chiswick auch nicht richtig aus. Offenbar sind selbst innerhalb Englands die jeweiligen Namen nicht so weit verbreitet, dass es für jeden Eingeborenen selbstverständlich wäre. Und für einige Endungen gibt es sogar wieder eigene Regeln, die sich auf andere Fälle anwenden lassen:

Brook(s) = Bruck (kurz gesprochen), Stemford Brook = Stemfed (siehe unten) Bruck; auch bei Eigennamen: Rebekah Brooks = Rebeckah Brucks

Chiswick = Tschissick (ein Londoner Stadtviertel)

Edinburgh = Edinbre (mit kurzem, tonlosem kurzem E am Ende)

Endung -ham = -em (mit kurzem, tonlosem kurzem E): Fulham = Fullem, Nottingham = Nottingem, Tottenham = Tottenem, auch Eigennamen wie Abraham = Äibrem oder Graham = Gräi‘em

Endung -mouth = -meth (kurz gesprochen): Plymouth = Plimmeth, Bournemouth = Bornmeth, Portsmouth = Portsmeth

Endung -ord = ed (mit kurzem, tonlosem E): Stamford = Stemmfed, Woodford = Wudfed, Oxford = Oxfed

Endung -shire = -sche (mit tonlosem, kurzem E am Ende): Gloucestershire = Glosstersche, Worcestershire = Wuußtersche

Endung -wich = -itch (W wird nicht gesprochen): Norwich = Norritsch

Endung -wick = -ick (W wird nicht gesprochen): Chiswick = Tschissick, Warwick Avenue = Uorrick Avenue

Gloucester Road = Glosster Road

High Wycombe = High Uickomm (Städtchen westlich von London)

Holborn = Hoben (Londoner Stadtviertel)

Leicester Square = Lässter Square (großer Platz mit West-End-Kinos)

Leonhard = Lennerd

Southern = ssathern (im Gegensatz zum Substantiv south = south)

Worcestershire = Uooßtersche (mit kurzem E am Ende)

Modern = modden

Southern = ssathern (im Gegensatz zum Substantiv south = south)

Korrekturen und Vorschläge für Erweiterungen sind natürlich jederzeit willkommen…

Auf der Suche nach Mr. Bond

Ein vertrauliches Gespräch in der Ecke eines kleinen Pariser Cafés, ein Treffen auf einer verlassenen Bank im herbstlichen Hyde Park, ein Rendezvous in einer konspirativen Wohnung in Mayfair, post-koitales Kissen-Geflüster in einem durchgelegenen Hotelbett am Flughafen Schanghai – so stellt man sich das vor, wenn ein neuer Agent, eine neue Agentin für den Geheimdienst ihrer Majestät rekrutiert wird.

Stellt man sich natürlich nicht so vor. Hollywood ist nicht die Realität, das ist auch jedem (nach)pubertären James-Bond-Junkie klar, sobald er Action-trunken das Kino verlässt. Aber offenbar stellen sich die britischen Schlapphüte vor, dass sich die Menschen das so vorstellen. Denn im Kielwasser von „Skyfall“ schaltet MI-6 dieser Tage ganzseitige Anzeigen – um mit dem angeblichen Klischee vom Jet-Set-Spion aufzuräumen, vor allem aber, um damit zugleich neue Agenten anzuwerben.

Auch wenn man weiß, dass das Agentendasein wenig mit der glamourösen Leinwand-Realität zu tun hat: Ein wenig ernüchternd ist das schon, eine schnöde Zeitungsanzeige, um künftige Doppel-Null-Agenten zu finden. Da scheint man beim MI-6 reichlich verzweifelt zu sein. Oder liegt die Betonung beim Wort Geheimbehörde jetzt auf der zweiten Silbe?

Moment! Wie war gleich der Name? MI-6, wirklich? Den gibt es offiziell doch gar nicht! Secret Intelligence Service heißt M’s Laden regierungsamtlich. Verdächtig! Also alles ein Fake? Oder haben sich die Schlapphüte irgendwann der Kraft des Faktischen gebeugt und gesagt: Wenn alle MI-6 sagen, dann werben wir halt unter dem Namen? Alles sehr geheimnisvoll. Na, wollen mal sehen…

Die Überschrift wirkt schon mal hübsch paradox, und eines Geheimdienstes würdig: „Wären die Qualitäten, die einen guten Spion ausmachen, offensichtlich, dann wären sie keine Qualitäten für einen guten Spion“ – Wunderbar! Wer über diesen Satz nachdenkt, dem dreht sich bald alles im Kreis.

M’s Rekrutierungs-Abteilung macht das nicht ungeschickt: Der MI-6 gibt sich unheimlich unheimlich, der Text kommt betont aufklärerisch-seriös daher – und füttert zugleich zwischen den Zeilen die Fantasie der Leser und der Spione in Spé.

Da müssen zuerst mal die gängigen Agenten-Klischees zertrümmert werden: Verdeckte Ermittlungen, Observierung, Verfolgungsjagden, Schießerei im Kasino – so sieht es aus, das Leben als Spion, nicht wahr? Aber, so raunt der Text weiter: „Das erste, was man über den MI-6 lernen muss, ist, dass nichts offensichtlich ist.“ – Ein Lehrbuch-Satz aus dem kleinen Einmaleins der Desinformation – Tarnung durch vermeintliche Offenheit. So macht man das: Das eine Klischee ausräumen, indem man eine aufklärerische Mine aufsetzt und es durch ein anderes ersetzt. „Alles ist anders, nichts ist wie es scheint.“ – Vorbildlich!

Auch das Klischee vom Spion als einsamen Wolf sucht die Anzeige vorgeblich zu zerstören, indem sich der MI-6 als besonders offen und familienfreundlich zeigt – nur, um wenige Zeilen später wie selbstverständlich zu erklären, dass eine Tarngeschichte notwendig werden wird:

„Wie sieht es mit der Geheimhaltung aus? Nun, offensichtlich werden die Details Ihres Jobs vertraulich sein, und wir bitten Sie, Ihre Bewerbung niemandem gegenüber zu erwähnen. Wenn Sie dann für uns arbeiten, werden Sie Ihre Rolle einem oder zwei engen Freunden oder Familienmitgliedern offenlegen können. Für alle anderen helfen wir Ihnen, eine glaubwürdige Cover Story zu entwickeln.“

Na bitte, alles ganz harmlos. Interesse? Bewerbungen werden hier entgegen genommen. Wobei… – vielleicht ist das ja alles ist eine groß angelegte Täuschung, die vermeintliche Offenheit nur das Cover up des Cover up! Wer weiß…

Die Bank ist da in jedem Fall sicherer. Sie wissen schon, im Hyde Park, die Bank an der Fußgänger-Brücke über die Serpentine. Morgen früh, exakt um 0-800. Seien sie pünktlich und: kein Wort zu niemandem!

(Achtung: Dieser Blogeintrag wird sich nach Lektüre selbst zerstören)

Wort des Jahres: Omnishambles

Da habe ich doch vor geraumer Zeit Shambles zum Wort der Woche erkoren – nicht nur, weil es so schön nach dem klingt, was es bedeutet: Scherbenhaufen, Durcheinander, Saustall.  In der hiesigen Berichterstattung wird es darüber hinaus in jedem denkbaren Kontext immer wieder gern benutzt. Und auch Politiker bedienen sich gern der Shambles, entweder um die verkommene Moral der Opposition zu qualifizieren, oder die geplatzten Gesetzesvorhaben der Regierung.

(Quelle: Metro, 13. November 2012)

Besonders hervorgetan hat sich in dieser Hinsicht Labour-Chef Ed Miliband, der im Frühjahr die Steigerungsform von Shambles salonfähig machte. Im House of Commons fragte er den Regierungschef zum Etatentwurf (wie hier üblich indirekt, indem er den Speaker of the House adressierte): „We are all keen to hear the prime minister’s view on why he thinks (…) even people within Downing street are calling it an omnishambles budget.“

Spätestens da wurden die Redakteure des Oxford Dictionary aufmerksam, der höchsten moralischen Instanz der englisch-sprachigen Welt (und die ist bekanntlich recht groß). Noch vor Kandidaten wie Eurogeddon, games maker und yolo (was auch immer das sein mag) kürten sie omnishambles jetzt zum Wort des Jahres. Hier die offizielle Definition:

omnishambles, noun, informal

  • a situation that has been comprehensively mismanaged, characterized by a string of blunders and miscalculations
  • [coined by the writers of the satirical television programme The Thick of It: from OMNI- and SHAMBLES]

Ein Grund für die Ehrung war laut Oxford Dictionary, dass sich aus dem Begriff mannigfaltige Derivate generieren lassen. Und diese Möglichkeit lässt sich die britischen Presse niemals entgehen, liebt sie doch Neologismen, sprachliche Neuschöpfungen jedweder Art. Es gehört zum sportlichen Ehrgeiz des diensthabenden Redakteurs, und zum guten Ton im täglichen Wettbewerb der Blätter untereinander, für möglichst jede Schlagzeile altbekannte Begriffe und Namen zu neuen zusammen zu nieten. Die Ergebnisse sind mehr oder minder gelungen, nicht immer krachend originell, aber nie langweilig. Omnishambles jedenfalls bietet sich hervorragend an für solcherlei Operation am offen Wort, und so waren bald zahlreiche Abkömmlinge im Umlauf, wie omnishambolic, Romneyshambles, olympishambles und scomnishambles.

Arbeiterführer Miliband hat mit Omnishambles übrigens zum zweiten Mal in Folge dem Wort des Jahres auf’s Siegertreppchen verholfen: 2011 machte er die „squeezed middle“ populär, die ausgequetschte Mittelklasse, die den Großteil der Steuern zu schultern hat. Wenn das mit dem Job als Premierminister bei den nächsten Parlamentswahlen nichts geben sollte, kann er sich ja immer noch als oberster Schlagzeilendichter beim Guardian bewerben…

London Alaaf! – Karneval an der Themse

Hat da jemand „Kamelle“ gerufen? Ich fürchte, das war ich selbst. Kleines Versehen. Aber man kann sich da schon mal vertun: Seit einer halben Stunde schon ziehen die Gruppen, Spielmannszüge und Festwagen an uns vorbei, farbenfroh und fröhlich, wie man bei solchen Gelegenheiten gern sagt. Clowns sind darunter, Japanische Taiko-Trommler, Chinesische Geishas. Auf einem „Float“ (den Begriff haben sie vermutlich von der Love Parade geklaut…) beugen sich Sanitäter in einem Open-Air-OP über eine offenbar erkrankte Übungspuppe, vergisst darüber aber nicht, immer wieder ins Volk zu winken, das am Straßenrand begeistert klatscht und seine Handykameras hoch hält. Die örtliche Fleischer-Gilde führt einen Gasballon spazieren in Form einer riesige roten Schweinerippe – vermutlich eine Werbung für leichte Kost…

Dazwischen immer wieder Gruppen von kleinen und großen Jungs (und Mädels) in lustigen Militär-Uniformen, bewaffnet mit Gewehren und Panzerfäusten, die täuschend echt aussehen. Mag daran liegen, dass sie echt sind. Leichte Artillerie, Pioniere, Funker, Sanitätsoffiziere – sogar der Armee-Geheimdienst ist mit von der Partie. Statt Gulasch-Kanonen ziehen die Laster hier Feldhaubitzen durch die Innenstadt. Auf der Ladefläche eines Armee-LKW ist vorn eine Raketenbatterie installiert, dahinter parkt ein schwerer Kampfpanzer. – Willkommen beim alljährlichen Festumzug des Lord Mayors in der City of London!

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Dreieinhalb Meilen zieht sich der Zug durch das Finanzzentrum der Hauptstadt, dem Zentrum des historischen London, zwischen St. Paul’s Cathedral und dem Royal Court of Justice. Seit 1215 geht das schon so, als der nicht nur von den Londonern viel gehasste König John (der Bruder von Richard Löwenherz und grimmige Gegenspieler von Robin Hood) sich genötigt sah, den Posten des Bürgermeisters der Stadt von den indolenten Bürgern der Stadt wählen zu lassen – damals und lange Zeit danach das höchste Amt, das ein Nicht-Adeliger erreichen konnte. So steht es in der berühmten Magna Carta. Um den frisch gewählten Amtsträger an sich zu binden, ließ der Monarch ihn per Prozession zu sich kommen, auf dass er seinem König die Treue schwöre. 683 Männer haben auf diese Weise beim Staatsoberhaupt vorgesprochen – und bislang eine einzige Frau. Muss ein Versehen gewesen sein…

Als „The Lord Mayor’s Show“ ist die alljährliche Prozession bekannt, und erfreut sich ungebrochener Beliebtheit beim Volk. Der Lord Mayor hat zwar nichts zu sagen in der Stadt – er ist eine Art nobilitierter Grüßaugust, und nicht zu verwechseln mit dem Mayor, der Greater London regiert (zur Zeit der konservative Boris Johnson) – aber als Zeremonienmeister wird er gefeiert wie der Prinz im Rheinischen Karneval. Alderman Roger Gifford gab sich dieses Jahr die Ehre als 685. Lord Mayor of London. Während des Festumzuges hat er auch die gleiche Aufgabe wie der närrische Prinz: wenn er in seinem güldenen Prunkwagen umjubelt vorbei gezogen ist, weiß jeder: Das war’s, jetzt kommt nur noch das Kehrmännchen-Ballett.

Für Eingeweihte in das rheinische Brauchtum sind die Parallelen zum Rosenmontags-Umzug auch sonst unübersehbar: Was dort die roten-grünen-gelben Funken-Garden, das sind hier die mittelalterlichen Gilden, die sich an diesem Tag dem Volke präsentieren (und vermutlich einen ähnlichen Hinterzimmer-Klüngelgrad erreichen wie ihre Kölschen Pendants).

Das militärische Element samt Marschmusik wird praktischer Weise gleich vom Militär selbst übernommen und bei der Gelegenheit zur Eigenwerbung genutzt (statt Strüsscher verteilen junge Unteroffiziere in Tarnuniform Infoblätter über Reservisten-Einheiten). Dazwischen tummeln sich Schulgruppen der jeweiligen Stadtviertel, ein paar Gäste aus Schweden auf einem Abba-Gedächtnis-Float, eine Truppe schlecht gelaunter Handelsleute aus Hamburg, sowie ein Häuflein Mexikaner, die sich auf dem Weg zu einer Stadtführung offenbar in die Parade verirrt haben, und nicht so ganz genau wissen, was sie hier sollen. Zwischendrin locker eingestreut ein paar Promis, wie die britische Leichtathletin und Olympia-Heldin Jessica Enis.

Die ganze Parade wird live von der BBC übertragen, mit vermutlich ähnlich geistreicher Kommentierung wie die deutschen Pendants  in Köln, Düsseldorf, und Mainz („Immer wieder ein herrlisches Bild, die staatsen Offiziere von der Stadtwache…“) – und abends gibt es die Zusammenfassung in den Hauptnachrichten. Dort erfahren wir auch, dass der „State Coach“ des frisch gebackenen Lord Mayors auf dem Rückweg ins Museum einen Achsbruch erlitten hat. Die 250 Jahre alte Kutsche, die den Rest des Jahres im Museum of London wohnt, „ist die am meisten beanspruchte Kutsche des 18. Jahrhunderts“, sagte ein Sprecher entschuldigend. Dem neuen Lord Mayor sei aber ncihts passiert, thank goodness!

Jaja, wie der Engländer so treffend sagt: „Et hätt noch immer joot jejange…“

Things to do (when in London) – Nördlich von St. Paul’s

Er ist der letzte seiner Art. Nirgends in London gibt es ihn noch, den einst allgegenwärtigen blauen Police Post, in dem die lokale Polizei-Schmiere im Notfall ein Telefon vorfand mit Direktleitung zu Scotland Yard, um Verstärkung zu rufen. Dieser hier, an der Verbindungsstraße zwischen St. Paul’s Cathedral und dem Londoner Stadtmuseum, ist als einziger übrig geblieben – so behauptet es jedenfalls der Stadtführer Secret London. Wer allerdings beim Spaziergang die Augen aufmacht, der wird bald die eine oder andere Polizeibox zu Gesicht bekommen.

Ich selbst habe Exemplare an der Tube Station Earl’s Court gesehen, und an der Ecke von Grosvenor’s Garden, gleich gegenüber der amerikanischen Botschaft, in allerdings eher beklagenswertem Zustand (im Gegensatz zu den anderen ließ sich jedoch noch die Klappe an der Vorderseite öffnen, und tatsächlich: Darin befand sich ein Telefon – ob es noch funktioniert, habe ich nicht ausprobiert). Aber dieser Post hier ist besonders schön wieder hergerichtet und verweist auf die Tage, als Polizeifunk noch in weiter Ferne lag.

Zudem dient die Box als pittoresker Leuchtturm für den unscheinbaren Eingang zum kleinen Postman’s Park. Diese kleine Grünanlage ist einer jener vielen winzigen Oasen, in denen der Londoner Stadttrubel von einer Sekunde zur nächsten ganz weit weg ist. Dies hier ist eine ehemaliger Friedhof, einige verwitterte Grabsteine zeugen davon. Am hinteren Ende beheimatet er eines der erbaulichsten unter den zahllosen Londoner Denkmalen.

Keiner Königin ist es gewidmet, nicht den Kriegstoten und keinem Staatsmann, sondern echten Helden. Der Künstler George Frederic Watts kam Ende des 19. Jahrhunderts auf die Idee, einen Ort für all die sonst ungenannten Menschen zu schaffen, die zwar keinen beeindruckenden Titel besaßen, aber den Mumm, andere Menschen aus einer Lebensgefahr zu retten, und dabei selbst ums Leben kamen.

Was bleibt von solchen Rettern, außer vielleicht einer Notiz in der Lokalzeitung unter der Rubrik Vermischtes? fragte sich Watts, und begann damit, Geld für eine Gedenkmauer zu sammeln, in die er Marmor-Tafeln einlassen wollte. Doch das Projekt schleppte sich dahin, die Begeisterung potenzieller Geldgeber blieb zurückhaltend für einen Gedenkort mit nur kleinen statt klingenden Namen. Lag es daran, dass Watts‘ Denkmal sich nicht zur staatlichen Selbstbeweihräucherung eignet, oder daran, dass der Initiator überzeugter Sozialist war – weder König noch Parlament noch sonst jemand sprang auf seine Idee an. So finanzierten er und seine Frau Mary es kurzerhand selbst.

Die erste Plakette wurde im Jahr 1900 angebracht, und erinnert an eine Frau namens Alice Ayres, die Tochter eines Maurers, „who by intrepid conduct saved three children from a burning house in Union Street, Borough, at the cost of her own young life, April 24, 1885.“ (dies ist auch die einzige Geehrte, die es zu einiger postumer Berühmtheit brachte, was sehr ungewöhnlich war: eine Frau als strahlende Heldin, von niedrigem Stand und ungebildet dazu,  war im viktorianischen England ein äußerst ungewohntes Konzept. Im Hollywood-Film Closer kommt sie zu späten Ehren. Die Anfangsszenen spielen im Postman’s Park und die gerade einem Unfall entkommene Natalie Portman stellt sich ihrem Retter Jude Law als Alice Ayres vor).

13 weitere Plaketten folgten während Watts Lebenszeit, 34 ließ seine Frau danach anbringen. Anstatt für Marmor reichte Watts‘ Geld nur für Keramik. Aber auf eine merkwürdige Weise verleiht gerade dieses bescheidene Material den Namen und Daten eine eigene, anrührende Würde.

Für viele Platten wäre noch Platz gewesen, doch die meisten Reihen blieben leer. Erst vor wenigen Jahren kam eine weitere hinzu, nach fast 80 Jahren Pause, und zwar für einen Leigh Pitt, der beim Versuch starb, einen ertrinkenden Jungen aus einem Kanal zu retten. Ob die Tradition fortgesetzt wird, weiß ich nicht. Watts hatte gehofft, dass in anderen Städten ähnliche Denkmale errichtet würden, um die zu ehren, die nicht zuerst an sich denken. Das im Postman’s Park blieb aber das einzige.

Wenn man einmal in dieser Ecke der City of London unterwegs ist, liegt ein Besuch des Museum of London nah, das hier in Steinwurfweite seine Räumlichkeiten hat. Der Eintritt ist frei, wie bei allen städtischen und staatlichen Museen. Vorher aber geht es von Great Britain nach Little Britain. So heißt eine kleine Straße kurz vor dem Stadt-Museum. Ob der Name in einem plötzlichen Anfall von imperialer Bescheidenheit zustande kam, ist mir nicht bekannt. Kurz also noch ein Foto…

… und hinein geht’s ins Musem: Von der Geschichte der Kelten-Siedlung in den sumpfigen Themse-Auen über Modelle der Römerfeste Londinium und den ersten hölzernen Tower of London unter William dem Eroberer, die Pest und das vernichtende Große Feuer im 17. Jahrhundert, bis zum Nachbau einer viktorianischen Einkaufstraße und der Mode während der Beatle-Mania – alles da und alles spannend aufbereitet. Eines der Highlights: die Prunk-Kutsche, mit der der Lord Mayor alljährlich sechsspännig durch die Straßen der City paradiert (nicht zu verwechseln mit Boris Johnson, dem Mayor of London, der für Greater London zuständig ist). Der Lord Mayor hat zwar in der Stadt nicht mehr allzu viel zu sagen, aber von „Pomp & Circumstance“ hat so etwas die Briten ja noch nie abgehalten…

Das Ganze ein schöner Streifzug durch zweitausend Jahre Geschichte. Allerdings ist der Besuch von Ausländern eher nicht vorgesehen, jedenfalls nicht von solchen, die des Englischen nicht mächtig sind (soll es ja auch geben): Erklärungen in Französisch, Japanisch, Russisch, Chinesisch oder gar Deutsch sind an keinem der Exponate zu finden, einzig ein dürres Faltblatt mit kurzen Texten zu den 10 Highlights der Ausstellung verteilen die Museumsleute an die wenigen fremdsprachigen Touristen, die sich hierhin verirren. Wie auch immer: Zwei bis drei Stunden sollte man sich für Londons Geschichte ruhig Zeit nehmen.

Nicht ganz so lang benötigt man für das Clockmakers‘ Museum, das sich in der Guildhall findet, nur zwei Straßen vom Museum of London entfernt. Auf dem Weg lohnt ein Blick auf die Straßenschilder in dieser Gegend, die bewohnt ist von Prachtbauten des 19. und Glaspalästen des 20. Jahrhunderts. Die Straßennamen lassen ahnen, wie es hier früher ausgesehen haben mag, in den engen Gassen der Londoner City vor dem großen Brand 1666. Bread Street und Milk Street und Wood Street heißen die Straßen hier und geben damit Auskunft, womit in dieser Ecke der Stadt vornehmlich gehandelt wurde. Ein Straßenname hat mich allerdings ratlos zurück gelassen. Was da wohl feilgeboten wurde?

Nun aber ins Uhrmachermuseum, das gleich an der Ecke liegt. Der Eingang versteckt sich an der Seite der prächtigen Guildhall in einem modernen und wenig glamourösen Anbau, vorbei an einem gelangweilten Pförtner. Aber nicht abschrecken lassen! Auch hier ist der Eintritt frei und meist wird man sich allein in den bescheidenen Räumen wiederfinden, wo man ungestört Navigationsuhren, Wanduhren, Taschenuhren und allerlei Kuriositäten bestaunen kann –

Eine Kugeluhr vom Anfang des 20. Jahrhunderts, angetrieben durch eine kleine Metallkugel, die in Zickzacklinie eine Wippe von einer Seite zur anderen hinunter läuft, sodann wieder zurück.

und nebenbei etwas über die lange Geschichte der englischen Uhrmacherei erfährt, die eng mit der Seefahrt verbunden ist. Denn zur genauen Bestimmung des Längengrads, auf dem sich die Schiffe ihrer Majestät gerade befanden, brauchte es präzise Uhren. Und das war trickreich, denn die genauesten Uhren liefen damals per Pendel, was sich auf einem schaukelnden Schiff eher schlecht macht.

London war bis ins 19. Jahrhundert das Zentrum europäischer Uhrmacherkunst – bis die Konkurrenz aus Übersee den Markt mit billiger Ware aus Massenproduktion überschwemmte und die edle Handwerkskunst auf der Insel zerstörte. Und wer war’s, wer hat’s erfunden? Natürlich, die Schweizer, und daneben die Franzosen, vor allem aber die Deutschen. Typisch, immer das gleiche…

Je nach Lust und Ausdauer wird man nach einer bis anderthalb Stunden aus der Uhrmacher-Ausstellung wieder heraus fallen. Erholung nach dem Museums-Marathon bieten die Bänke auf einem kleinen Platz schräg gegenüber der Guildhall. Dort steht marmor-besockelt eine Büste des größten aller englischen Dichter. Das Denkmal allerdings gilt nicht direkt dem britischen Barden, sondern zweien seiner Freunde, ohne die wir von Shakespeare vermutlich nichts wüssten. John Hemminge und Henry Condell haben Shakespeares Werke (oder wessen Werke auch immer) zusammengetragen und 1623 als First Folio veröffentlicht, ohne jegliches Eigeninteresse und ohne Rücksicht auf die eigenen schmalen Finanzen, wie die Tafel im Denkmalsockel vermerkt. Chapeau vor so viel Uneigennützigkeit und aufopferndem Liebesdienst. Aber kein Wunder: Die beiden lebten hier, gleich an der Love Lane…